Politik

Interview in “Links! Sachsen”

Kürzlich gab ich für “Links! Sachsen” ein ausführliches Interview zur Spielesituation in der DDR. Anja Eichhorn und Rico Schubert befragten mich zu unseren bisherigen Recherchen zur Spielekultur, der laufenden Ausstellung in der Johannstadthalle Dresden, sowie zum DIY Trend den wir auch heute wieder in der Gesellschaft erkennen. Nun ist das Interview veröffentlicht – unter dem vielsagenden Titel: “Die Spielekultur der DDR ist eigentlich völlig unbeleuchtet”. Dieser Aussage möchte ich jedoch der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass neben der Initiative“Nachgemacht” sowohl das Deutsche SPIELEmuseum Chemnitz, als auch das DDR Museum Berlininzwischen vermehrt Bemühungen anstellen, diese Lücke der Aufarbeitung zu schließen. Das vollständige Interview von “Links! Sachsen” kann hier abgerufen werden…

Grenzen der EU – Grenzen der Menschenrechte?

Grenzen der EU – Grenzen der Menschenrechte? – so lautete der Titel der Konferenz, die das Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit verschiedenen NGO- Gruppen am 06. und 07. April ausrichtete, um mit zahlreichen Expert_innen und Gästen über die gegenwärtige Situation der Flüchtlinge in Europa und die Grenzpolitik der EU zu diskutieren. Welche Brisanz die gegenwärtige Debatte um die EU Außengrenzen hat und welche akuten humanitären Missstände damit in Verbindung stehen, zeigte die bedrückende Nachricht, dass in der Nacht vor der Konferenz vor der Insel Lampedusa erneut ein Boot mit 200 Flüchtlingen gekentert ist und dabei mindestens 150 Menschen ums Leben kamen.

Das die Diskussion um die gegenwärtige europäische Flüchtlings- und Asylpolitik nicht ohne einen Bezug zu den aktuellen revolutionären Geschehnissen in Nordafrika auskommt, verdeutlichte Mekonnen Mesghena, Leiter des Referats Migration & Diversity der Heinrich-Böll-Stiftung, bereits in seiner Begrüßungsrede. Unweigerlich muss in diesem Zusammenhang auch die Beteiligung und der Einfluss der Regierungen des Westens für die Machterhaltung der Diktaturen kritisch thematisiert werden. Gerade vor diesem Hintergrund ist es eine grundlegende Verantwortlichkeit Europas, die abschottende Grenzpolitik zu diskutieren und vor allem mit dem Blick auf die Einhaltung der Menschenrechte die Praktiken im Umgang mit Flüchtlingen zu verändern. Mesghena wies dabei auf die fehlende breite Lobby für Flüchtlinge hin und betonte aus diesem Grund die notwendige Arbeit von NGO und Selbstorganisationen, deren Austausch und Vernetzung ein zentrales Anliegen der Konferenz war.

Engagement auf allen Ebenen gefordert
Im Anschluss stellten 9 Nichtregierungsorganisationen mit jeweils 20 Bildern Ausschnitte ihrer Arbeit vor. In diesem sogenannten „Pecha Kucha“ wurde eindrucksvoll deutlich, wie vielfältig die verschiedenen Organisationen arbeiten. Neben der entscheidenden Kampagnenarbeit umfasst das Engagement der Akteure auch unmittelbare Aktionen vor Ort an den Grenzen (u.a. „Welcome to Europe“, Infomobil Griechenland) gegen die Abschottungspolitik der EU (Borderline Europe, Komitee SOS-Mittelmeer) ebenso wie Theateraufführungen in Schulen (SOS for Humanrights) und die Etablierung einer kritischen Migrationswissenschaft (kritnet). Dies geschieht immer auch mit kritischem Bezug zu den lokalen politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen zum Beispiel dem Kampf gegen Rassismus in Deutschland (Internationale Liga für Menschenrechte) oder der Wohnungspolitik des Senats in Berlin bei der Vergabe von Wohnungen an Flüchtlinge (Flüchtlingsrat).

Insbesondere das Einfordern einer transeuropäischen Solidarität, die Einhaltung und der Schutz der Menschenrechte sowie die Möglichkeit der Bewegungsfreiheit und einem Bleiberecht für alle waren deutliche gemeinsame Forderungen aller Organisationen, die sich auch als thematischer roter Faden der Konferenz verstehen lassen.

Nachdem die Konferenz bereits seit einem Jahr geplant war, musste der Fokus durch die Ereignisse in Nordafrika etwas korrigiert werden, um auch Raum für die aktuellen politischen Veränderungen und Herausforderungen zu geben. Heidi Bischoff-Pflanz vom Bildungswerk der Heinrich-Böll-Stiftung betonte in ihrem Einführungsvortrag die Vielschichtigkeit der zu diskutierenden Probleme und die Notwendigkeit der politischen Einmischung durch Stiftungen, NGO, Think Tanks und weiterer Akteure. Neben der Überforderung Griechenlands und Italiens als zentralen Fluchtstationen, dem Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und der wachsenden Präsenz des Rechtspopulismus in Europa muss es vor allem Raum für die Auseinandersetzung mit den Gründen für Flucht und die Aufstiegsaspirationen der Menschen gehen. Sie forderte in diesem Zusammenhang einen „New Deal Mittelmeer“ und die Gestaltung des „Aufbau Süden“, bei dem Europa eine zentrale solidarische und dennoch kolonial-kritische Rolle spielen muss.

Die europäische Abschottungspolitik
Der Soziologe Mahdi Mabrouk von der Universität Tunis bekräftigte die fragwürdigen Entwicklungen in der europäischen Migrationspolitik. Seit dem 09.11.2001 sieht er die stetige Vermischung von Migrationsthemen und Terrorismus und eine deutliche Verschärfung der europäischen Politik im Umgang mit Flüchtlingen. Bereits das Schengener Abkommen bietet eine gesetzliche Grundlage für die Ablehnung von Zuwanderern, die in der aktuellen Mobilisierung gegen Migrant_innen und unter Bezug auf die „Bewahrung nationaler Identitäten“ als wachsende rechtspopulistische Bewegung in Europa sichtbar ist. Das erklärte europäische Ziel ist es, so Mabrouk, die Zuwanderung zu verringern, die Rechte der Flüchtlinge einzuschränken und die Möglichkeiten der Abschiebung zu erweitern. Bis zu dem Aufbegehren der libyschen Bevölkerung galt Gaddafi als „Gendarm Europas“, dessen Sicherheitskräfte in Abstimmung mit Europa vorgeschobene Grenzposten aufbauten um so die Menschen vor der Flucht nach Europa abzuhalten. Hinzu kommen die Gesetzerlasse aus Italien, die illegale Zuwanderung unter Strafe stellen und somit erstmals Zuwanderung kriminalisieren. Die aktuelle Lage in Tunesien mit tausenden Flüchtlingen aus Libyen verlangt nach der Unterstützung und Solidarität durch die internationalen Organisationen und die EU. Doch stattdessen setzt zum Beispiel die italienische Regierung auf Einmischung in die tunesische Innenpolitik, indem Berlusconi beim Staatsbesuch in Tunesien droht, sich militärisch einzuschalten wenn es nicht gelingt, die Zuwanderung nach Italien zu verringern.

In diesem Zusammenhang schließt Mabrouk, der unter anderem auch Mitglied in der Tunesischen Liga für Menschenrechte ist, mit der Feststellung, „die Null-Zuwanderung nach Europa ist eine Illusion“ und die kompromisslose Garantie der Menschenrechte ebenso wie die Stärkung der Zivilgesellschaft sollten zentrale Ziele der internationalen Gemeinschaft sein.
Im zweiten Podium wurden ähnliche Aspekte diskutiert. Die griechische Rechtsanwältin Giota Massouridou sprach darüber hinaus die eklatante Situation in Griechenland als Beispiel für grundlegende Menschenrechtsverletzungen an. Auch Karl Kopp von ProAsyl kritisiert die Dublin II Verordnung am Beispiel Griechenlands und beurteilt sie in der vorliegenden Form als nicht mehr haltbar. Aus diesem Grund braucht es neue gemeinsame Asylstandards, die besonders den Schutz von Frauen und Minderjährigen gewährleisten. Orcun Ulusoy von der türkischen Organisation „Müneci-DER“ prangerte die Menschenrechtsverletzungen bei Flüchtlingen in der Türkei an, die er als „blinden Fleck“ und „black hole“ bezeichnet, welche vom Rest Europas vor allem dann ignoriert werden, wenn Zuwanderer in die Türkei zurückgeschickt werden sollen.

Giota Massouridou sieht zwei grundsätzliche Herausforderungen: zum einen die zeitgemäße Klärung der Frage, wer heute im 21.Jahrhundert überhaupt ein Flüchtling ist, also welche Definition dieser Kategorisierung zugrunde liegt und zum anderen die notwendige Mobilisierung einer starken Zivilgesellschaft, die die Praktiken in ihrer Nachbarschaft, in ihrem Land oder dem Nachbarland nicht mehr duldet und aktiv Widerstand leistet. Nicht zuletzt ist dies die Forderung nach einem solidarischen Handeln das einhergeht mit der sozialen Verantwortung als Teil der Weltgemeinschaft und dem Öffnen einer politischen Debatte, in der Informationen verbreitet und zugänglich gemacht werden.

Die Kriminalisierung von Solidarität
Der erste Konferenztag endete mit einer sehr bewegenden persönlichen Geschichte, die gerade mit Blick auf das aktuelle Schiffsunglück vor Lampedusa und den unzähligen Menschen, die bereits auf der Flucht im Mittelmeer ihr Leben lassen mussten, eine tragische Brisanz hat. Die beiden tunesischen Fischer Abdelbassete Jenzeri und Mohamed Amine Bayoudh wurden von der italienischen Regierung zu 30 Monaten Haft und 440 000 Euro Schadensersatz verurteilt, weil sie im August 2007 44 Flüchtlinge aus Seenot in einem Schlauchboot befreiten und mit ihrem Fischerboot nach Lampedusa brachten. Beide Fischer waren gemeinsam mit ihrem Rechtsanwalt Leonardo Marino in der Heinrich-Böll-Stiftung anwesend, um von ihrer Geschichte zu berichten.

Außerdem saßen Judith Gleitze von Borderline Europe und der Kapitän Stefan Schmidt (ehemals Cap Anamur), der 2006 ebenfalls wegen Seenotrettung von Flüchtlingen im Juli 2004 angeklagt und im Gegensatz zu seinen beiden tunesischen Kollegen 2009 freigesprochen wurde, auf dem Podium. Der Konferenzabschluss offenbarte einen zentralen Widerspruch zwischen der asylpolitischen Realität der EU und dem aktiven Einsatz von Menschen, die global zwar im Sinne der Menschenrechte gehandelt, jedoch unmittelbar lediglich das für sie einzig notwendige und unerlässliche getan haben: nämlich die Rettung eines in Seenot geratenen Bootes und die direkte Hilfe von Menschen, die in Lebensgefahr schwebten. Die beeindruckende Selbstverständlichkeit, mit der die anwesenden Fischer und der Kapitän Schmidt von ihrem Einsatz berichteten, verdeutlichte die italienische Anklage und den Prozessverlauf mit all seinen Unklarheiten und Widersprüchen erst recht als repressive Praxis eines Staates, dessen Asyl- und Flüchtlingspolitik in keiner Weise hinnehmbar ist. Als Reaktion auf die Kriminalisierung von Seenotrettern gründete sich das Komitee „SOS Mittelmeer“, unter anderem auch um die Fischer in ihrer akuten Notlage zu unterstützen und somit auch andere Fischer zu ermutigen, bedrohten Flüchtlingen auf See zu helfen. Das dies nicht selten aufgrund der zu erwartenden Verurteilung und Anklage durch den italienischen Staat unterlassen wird, bleibt Spekulation, die sicherlich nicht selten auf dem Mittelmeer zur traurigen Wahrheit wird. Zumindest was die Küstenbehörden angeht scheint das Wegsehen Methode zu haben, laut Kapitän Schmidt ist der Seeraum nämlich so gut überwacht, dass sich eigentlich kein Boot unentdeckt auf den Gewässern bewegen kann. Solange jedoch weiterhin Boote untergehen und Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben lassen müssen, scheint man an dieser Stelle bewusst blind sein zu wollen.

Like a Man on Earth
Wie der erste Tag der internationalen Konferenz Grenzen der EU – Grenzen der Menscherechte? endete, so begann auch der zweite Tag mit einer persönlichen und überaus emotionalen Geschichte. Der Regisseur Dagmawi Yimer zeigte seinen bewegenden Dokumentarfilm „Like a Man on Earth“, in dem er, angelehnt an seine eigene Geschichte und mit zahlreichen Schilderungen anderer Flüchtlinge, skizziert, welchem unmenschlichen Umgang die Menschen ausgesetzt sind, die versuchen aus ihrer Notsituation zu entkommen und in Europa Asyl zu finden. Dabei richtete sich der Fokus des Filmes zum einen auf die Torturen, die mit dem Weg ans Mittelmeer, durch Menschenhändler, Menschentransporte und korrupte Polizei verbunden sind, zum anderen aber auch auf die Flüchtlingspolitik Italiens. Dies sei, so gab Mekonnen Mesghena im anschließenden Gespräch mit dem Filmemacher zu bedenken, jedoch kein Film ausschließlich über Italien, denn „hinter Italien verstecken sich 27 EU Länder“, die ebenfalls eine Verantwortung für das Leid der Flüchtlinge tragen.

Es sei nicht sein Ziel, Mitleid für diejenigen auszulösen, die bereits eine qualvolle Flucht durchgemacht haben, sondern auch „denen eine Stimme zu geben, die jetzt diese Probleme durchleben“, so Yimer. Und auch der Wunsch des Regisseurs, mit seinen Filmen gerade ein junges Publikum über die bittere Wahrheit der Flüchtlingssituation aufzuklären, wurde aufgegriffen und die Heinrich-Böll-Stiftung versprach, alles daran zu setzen, „Like a Man on Earth“ auch in die Berliner Schulen zu bringen.

Quasi Krieg gegen Einwanderer
Mit dem ausdrücklichen Ziel, konkrete Strategien zu entwickeln und diese umzusetzen, eröffnete Judith Gleitze von Borderline-Europe den Workshop zur Situation der Flüchtlinge in Italien, Libyen und Tunesien und erteilte Fulvio Vassallo Paleologo das Wort. Der Migrationswissenschaftler und Rechtsanwalt fand deutliche Worte und sprach von einem „quasi Krieg“ der derzeit gegen Einwanderer geführt wird. Davon sind nach seiner Einschätzung 90% der Migranten von Afrika nach Europa betroffen – völlig gleich ist es dabei, ob es sich um Menschen handelt, die dringend politisches Asyl brauchen oder um diejenigen, die aus anderen Gründen ihr Land verlassen. So ermöglicht das „Freundschaftsabkommen“, dass zwischen Berlusconi und Gaddafi für deren beider Staaten geschlossen wurde, dass Bootsflüchtlinge direkt und ohne Prüfung ihrer Asylberechtigung nach Libyen zurückgeschickt werden können. Dort wiederum ist die Lage von Flüchtlingen und Asylbewerber_innen katastrophal, da viele von ihnen ausgebeutet und misshandelt werden und nicht selten die Abschiebung nach Eritrea oder Somalia droht, wo sie verfolgt und gefoltert würden. Diese Tatsachen sind in der EU bekannt, zumal Libyen ein Staat ist, der die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat.

Die deutliche Forderung seitens Vassallo Paleologos lautet daher, dass gerade die neuen Regierungen in Nordafrika unterstützt werden müssen, eine andere Flüchtlingspolitik durchzusetzen und nicht mehr die Blockade für Italien zu sein. Darüber hinaus muss ein Moratorium durchgesetzt werden, was die fortwährende Abschiebung von Asylbewerber_innen stoppt und damit die Einhaltung der Genfer Konvention sicherstellt. Damit sind auch andere Länder wie Frankreich oder Deutschland gefragt, Asylbedürftige aufzunehmen und zu unterstützen.

Aus den Fehlern lernen
Ähnliche Forderungen stellte Karl Kopp von Pro Asyl. Es wäre einfach gewesen, festsitzende Flüchtlinge vor der UN-Resolution aus Libyen rauszuholen, so Kopp, „doch jetzt sind wahrscheinlich ein Teil dieser Menschen auf der Flucht gestorben.“ Darüber hinaus konkretisierte er die strategischen Eckpunkte seines Vorredners und betonte, dass die willkürliche Zurückweisungspolitik an den EU Außengrenzen, vor allem mit dem Instrument Frontex, gestoppt und ein humanitärer Umgang mit allen Bootsflüchtlingen gewährleistet sein muss. Humanitär heißt in diesem Sinne jedoch nicht allein eine menschenwürdige Aufnahme, sondern ebenfalls die Installation eines staatenübergreifenden Verteilungsmechanismus‘, der gewährleistet, dass Migrant_innen und Asylberechtigte problemlos dorthin gelangen, wo sie möchten – z.B. wenn Familie oder andere Verbindungen in Europa vorhanden sind. Das hat zur Folge, dass eine neue Flüchtlingspolitik etabliert werden muss und auch die Nachbarländer Europas nicht mehr als die Gendarmen benutzt werden dürfen.

Druck von unten
Hagen Kopp von Kein Mensch ist illegal pflichtete dem bis dahin angeführten Punkten zur Veränderung der Flüchtlingspolitik umfassend bei, gab allerdings zu bedenken, dass das Wie noch geklärt werden müsse. Dabei verwies er zunächst auf den jüngst veröffentlichten Text „Freiheit statt Frontex: Keine Demokratie ohne globale Bewegungsfreiheit“ worin der Zusammenbruch des „nordafrikanischen Wachhundregimes“ thematisiert wird. Da sich also die Impulse der Demokratisierungaus der Bevölkerung durchsetzen, kann die zentrale Forderung nur sein, eine globale Bewegungsfreiheit zu etablieren. Hierfür ist die Positionierung gegen die Visapflicht nur ein zentraler Punkt, doch es bedürfe weiterer Forderungen die darüber hinausgehen. Kopps Handlungsvorschlag hierfür lautete:

„Ich denke wir sind unbedingt aufgefordert, jetzt den Impuls aufzunehmen, verstärkt hinzufahren, Kontakte aufzumachen und zusammen zu überlegen, wie man das von unten herausfordern kann.“

Kopp stellte in diesem Zusammenhang auch fest, ersei ein entschiedener Feind davon, „die Migrationsbewegung immer wieder so aufzusplitten, in die ‚guten Flüchtlinge‘ und die ‚schlechten Migrant_innen‘.“ Denn auch wenn es nötig sei über Veranlassungen zu sprechen, transportiert dies einen humanitär-fragwürdigen Unterton und ist alles andere als ein solidarisches Signal. In erster Linie sollte es um ein Recht auf Migration gehen und nicht um eine qualitative Unterscheidung zwischen z.B. den Tunesischen Migrant_innen und Transit-Migrant_innen. Das Unrecht des Migrationsregimes sollte im erstrangigen Fokus stehen, so Kopp.

Europa braucht Zuwanderer
Letzterem pflichtete auch Elias Bierdel vom Österreichischen Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung bei indem er betonte, dass es sich um Menschen handle die in Bewegung sind und das Recht auf Bewegung sollte jedem zugesichert werden können. Anknüpfend an eine Publikumsmeldung, die die Dominanz der EU über die afrikanischen Märkte kritisch zur Diskussion stellte, bemerkte auch Bierdel erneut, dass die Verantwortung der europäischen Staaten für die Bedingungen in Afrika stärker in den Vordergrund der Diskussion und der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt werden müssen. Noch vor anderen Punkten klagte er den Waffenhandel an und forderte, dass die verantwortlichen Köpfe und Firmen hierfür entlarvt und ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden müssen. Mit deutlicher Empörung gab Bierdel hierbei zu bedenken, „wie speziell europäische Ölfirmen sich im laufenden Konflikt verhalten haben – die zum Teil auch halbstaatlich sind – und die tatsächlich diesem Regime weiter täglich die Millionen überwiesen haben, während die bereits auf die Demonstranten geschossen haben – dass ist für mich unfassbar und gehört wirklich nochmal ganz anders öffentlich angeprangert.“

Berliner Deklaration – Akute Notwendigkeit durch Libyenkrise
Mahdi Mabrouk versuchte im Anschluss die Situation Tunesiens zum gegenwärtigen Zeitpunkt stärker in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken. Er erklärte, dass die Revolution keine Zauberei ist, die in Kürze alle vorhandenen Probleme in Ordnung bringe. So ist beispielsweise die Arbeitslosigkeit von 18% auf 28% nach der Revolution, mit der Rückkehr der Arbeiter die in Libyen gewesen sind, gestiegen. Darüber hinaus sind seit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung in Libyen 270.000 nicht-tunesische Flüchtlinge nach Tunesien gekommen und gut 6.000 tunesische Unternehmen mussten schließen. „Trotzdem“, so Mabrouk, „wurden nie Flüchtlinge abgelehnt.“ An dieser Stelle müsse Europa helfen, da jedes Mal wenn die EU Flüchtlinge nach Tunesien zurückschickt, die Situation an den Grenzen immer verheerender und die revolutionäre Bewegung damit maßgeblich geschwächt würde. Auf diesem Weg würde die Revolution mittelfristig ein Misserfolg werden. Aus diesen Gründen forderte Mabrouk ein unmittelbares Statement auch von der Runde der Konferenz und macht den Vorschlag einer „Berliner Deklaration“, die eine Forderung nach mehr Rechten für Migrant_innen und den Stopp der Rückführungsaktionen manifestiert.

Dieser Aufruf wurde sehr positiv aufgefasst und angelehnt an die Forderungen, die innerhalb der gleichen Tage aus Paris von Migreurop (www.migreurop.org) gekommen sind, wurden neun Diskussionspunkte einer möglichen „Berliner Deklaration“ aufgesetzt. Diese umfassten:

  1. Sicherung der Bewegungsfreiheit der Menschen
  2. Aufhebung der Visumspflicht
  3. Abschiebung verhindern
  4. Gewährung eines zeitweisen Aufenthalts zur legalen Einreise
  5. Praktischer Einsatz (z.B. Migrationshaus in Tunis, Vernetzung mit Organisationen aus Tunesien)
  6. Verantwortung der EU gegenüber afrikanischen Ländern öffentlich darstellen
  7. Öffentlichkeit herstellen für das Bewusstsein über die Notwendigkeit von Zuwanderung in die EU
  8. Ökonomische Entwicklung vorantreiben
  9. Festsitzende Flüchtlinge in Libyen schützen (z.B. vor Abschiebung nach Mali)

Auch Fulvio Vassallo Paleologo bekräftigte nochmals die Notwendigkeit, eine solche Deklaration zeitnah herauszugeben, da sich die Flüchtlinge in Libyen zurzeit in einer lebensbedrohlichen Notsituation befinden und die EU zweifelsfrei die Möglichkeit hat, hier helfend einzuschreiten.

Gerade weil die umfassend besprochenen Ideen durch die Libyenkrise eine solch aktuelle Brisanz gewonnen haben, stimmte die Mehrheit der anwesenden Aktivist_innen und Teilnehmer_innen für die sofortige Aufsetzung einer solchen Erklärung, wozu sich Karl Kopp, Conni Gunßer (Mitglied des Flüchtlingsrats Hamburg und des Bundesfachverbands “Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V.”), sowie Fulvio Vassallo Paleologo unmittelbar bereit erklärten.

Die Erklärung mit der Überschrift „Berlin erinnert: Fluchtwege nach Europa öffnen – Demokratie heißt auch Bewegungsfreiheit!“, die damit auch auf die besondere historische Bedeutung Berlins anspielt, wendet sich direkt an die Bundesregierung und die europäischen Staaten und fordert offensiv eine Abkehr von der Politik der Abwehr gegenüber Flüchtlingen und Migrant_innen.

Damit diese Initiative auch künftig die lancierte Vernetzung erstellen und ausbauen kann, soll eine Mailingliste der Organisationen und Aktivist_innen etabliert werden. Diejenigen, die Teil des Informationsnetzwerkes werden möchte, können dazu eine E-Mail an mail@borderline-europe.de(Betreff: EU-Konferenz Berlin Mailingliste), mit der Angabe der gewünschten Kommunikationssprache, schreiben.

Militarisierung stoppen – Kolonialismus ein Ende setzen
Am frühen Abend der Konferenz stellten die Workshops dann ihre Arbeitsergebnisse vor. Neben der umfassenden Auseinandersetzung und dem Austausch über die Flüchtlings- und Grenzpolitik von Griechenland und der Türkei sowie an den Grenzen Europa – Nordafrika ist die Vernetzung der initiativen Gruppierungen sowie die Verabschiedung der „Berliner Erklärung“ als einstweiliger Zwischenerfolg der EU-Konferenz zu werten.

Den letzten Programmpunkt bot die Podiumsdiskussion mit dem Titel „Militarisierung der Flüchtlingsabwehr: Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft“, die Christoph Marischka, Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung, mit einem Vortrag einleitete. Darin lenkte er den Fokus auf die sogenannte „militärische Revolution“, die sich in den letzten Jahren abzeichnet. Dementsprechend spielt die Entwicklung neuer militärischer Waffen nur noch eine untergeordnete Rolle – vielmehr zeichnet sich die Tendenz zur strategischen Überwachung, zum multilateralen Handeln und zur Einflussnahme auf die Bevölkerung, z.B. in der Ausbildung von Soldaten in Drittstaaten, ab. Auf diesem Weg gewinne das Militär immer stärkeren Einfluss auf die Bevölkerung und könne damit dominant gezielte Interessen umsetzen. Ein deutliches Beispiel hierfür, so Marischka, ist Frontex, die seit kurzem auch das Gebiet des Katastrophenschutzes für sich beanspruchen. Im konkreten Hinblick auf das Konferenzthema meint Marischka, dass die Flüchtlinge und ihre Situation „eher ein Symptom von einem Nord-Süd-Verhältnis sind, dessen Absicherung genau dieser Geopolitik dient.“ Das heißt nicht zuletzt, dass die Strategien der Militarisierungspolitik zur Erhaltung eines herrschenden Status über Afrika eingesetzt werden. So dienen nach seiner Einschätzung auch der EU Militäreinsatz der stattfinden wird und der NATO Einsatz der bereits im Gange ist, zu eben jener Machterhaltung Europas. Daraus schließt er die Unmöglichkeit, die Migrationspolitik zu verändern, ohne gleichzeitig auch die ganz grundsätzlichen bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu verändern. „Was wir einfordern müssen ist, dass dem Kolonialismus, der immer weiter kriecht und im Moment massiv erneuert wird, endlich ein Ende gesetzt wird.“

Breite Öffentlichkeit muss Bewusstsein erlangen
Die Frage, wie ein solcher radikaler und nachhaltiger Situationswechsel aussehen könnte und was die ersten Ansätze sind, wurde abschließend diskutiert. Elias Bierdel nahm daran anknüpfend das aktuelle Unglück der 150 ertrunkenen Flüchtlinge zum Anlass, um – wie am Vorabend bereits sein Kollege Stefan Schmidt – darauf hinzuweisen, dass das Monitoring im Mittelmeerraum vollkommen lückenlos ist. Diese menschlichen Verfehlungen anzuprangern sollte nach seiner Auffassung ein zentraler Angriffspunkt der internationalen Aufmerksamkeit sein.

Auch Johannes Odenthal von der Akademie der Künste betonte eine akute Handlungsnotwendigkeit bei der Bevölkerung, die sich – ganz im Sinne Heinrich Bölls – in die gegenwärtigen Diskurse einmischen und positionieren muss. Kunst und Kultur seien hierfür ein nicht unwesentliches Mittel, da sich hieran die Politik breche und neue Entwürfe und Alternativen daraus entfaltet werden können. Die Frage, die damit sowohl künstlerisch als auch gesellschaftspolitisch gestellt wird und nach der gehandelt werden müsse ist: „In was für einer Gesellschaft wollen wir hier leben, für welche Rechte und für welche Werte setzen wir uns ein und für wen gelten die?“ Damit stimmte Odenthal auch seinen Vorredner_innen zu und bestätigte, diese Lebenssituation, wie wir sie aktuell haben, „ist nur haltbar mit diesen Grenzen und wenn wir diese Grenzen aufmachen, müssen wir von anderen Paradigmen ausgehen.“ Diese Paradigmen und deren Erneuerungen zu durchdenken sollte endlich mehr und mehr gesellschaftliche Aufgabe sein.

Fanny Dethloff, Flüchtlingsbeauftragte der Nordelbischen Kirche und Vorsitzende der ökumenischen Bundes-AG „Asyl in der Kirche“, begrüßte ebenfalls die Hinwendung zu Utopien und die Debatte über mögliche Alternativen zur gegenwärtigen Gesellschaft. Dieses Muster teilte auch Marion Bayer vom Netzwerk Welcome to Europe. Sie als Aktivistin der direkten Flüchtlingsarbeit berichtete von einer jungen Frau aus Eritrea, die kurz nach ihrer Ankunft in Europa sagte, „ich habe gelernt, dass es Europa, den Ort den ich erreichen wollte, gar nicht gibt.“ Dieser Ort, so Bayer, ist ein Ort, der in der idealisierten Form nicht existent ist und erst erkämpft werden muss. Dieser Kampf müsse jedoch im Einklang mit den Flüchtlingen selbst stattfinden und gleichsam aber auch im Bewusstsein einer breiten Bevölkerung in Europa -daher auch der Gedanke einer wohlwollenden Begrüßung derer, die nach Europa gelangen – „Welcome to Europe“.

So scheint sich letztlich das Podium einig darüber, dass gerade jetzt, wo sowohl in Afrika revolutionäre Umstürze passieren, als auch in Deutschland und Europa vereinzelte Tendenzen einer engagierten Zivilgesellschaft zu erkennen sind, die Möglichkeit besteht, Veränderungen im globalen Zusammenleben und damit in der Migrations- und Flüchtlingspolitik zu erzielen. Gefordert ist dafür eine heterogene Allianz, die von der starken dialogischen Präsenz mit der arabischen Welt bis hin zur Aufklärung in mitteleuropäischen Gemeinden reicht. Auf diesem Wege ist es, so die Hoffnung, wohl möglich die Grenzen – sowohl der EU und vor allem die der Menschenrechte – nach und nach zu überwinden.

Denn, so resümiert Christoph Marischka, „die Grenze ist ja keine Linie, sie ist ja kein Schlagbaum, sie ist ein riesiger Raum, der reicht bis hier, bis in diesen Raum hinein. Sie verdichtet sich im Mittelmeer und an der geografischen EU Außengrenze, aber da ist auch keine Linie. Sondern die Grenze ist ein Verhältnis, sie ist eigentlich nur als Verhältnis zu begreifen. Und das ist eigentlich das Verhältnis zwischen oben und unten.“

Die Aktualität der an den beiden Konferenztagen diskutierten Zustände lässt sich ganz aktuell in den Nachrichten und anhand der deutlich formulierten Schlagzeilen verfolgen, als Italien plante, nordafrikanischen Flüchtlingen befristete Visa auszustellen, um somit ihre Reisefreiheit in Europa zu ermöglichen. Die Reaktion der europäischen Partner zeigt deutlich die abschottende Politik Europas, wenn unter anderem in Deutschland und Frankreich ernsthaft diskutiert wird, wieder stichprobenartige Grenzkontrollen durchzuführen, um die befürchtete Zahl von Flüchtlingen abzuwehren statt in erster Linie internationale Solidarität mit ihnen und ihre Unterstützung zu bekunden.

Die Konferenz gab somit ein sehr deutliches Bild der vielschichtigen Problematik wieder, denn die Flüchtlings- und Asylpolitik betrifft unweigerlich ganz verschiedene Bereiche der Gesellschaft. Dies beginnt bei dem unerlässlichen Engagement ganz unterschiedlicher nicht-staatlicher Gruppen, die tagtäglich in ihrer Arbeit versuchen, die Grenzen und Zuwanderungspolitik der EU scharf zu kritisieren und solidarische Unterstützung für Menschen auf der Flucht zu leisten und setzt sich fort bei der kritischen Betrachtung wirtschaftlicher Interessen und politischer Entscheidungen und führt nicht zuletzt zu der Sensibilisierung und dem Einsatz der Zivilgesellschaft im Sinne der Menschenrechte.

Ein abschließendes Fazit lässt sich mit einem von Mekonnen Mesghena bereits in seiner Eröffnungsrede zitierten Sprichwort formulieren, das besagt: „Alles was wir tun und alles was wir nicht tun, ist ein Teil von uns“. Und die Verantwortung zu handeln teilen wir alle.

 

Von Kerstin Meißner und Martin Thiele

Bericht zur Internationale Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung
06.und 07.04.2011

 

Bildrechte Titelbild: Bildrechte: Sara Prestianni / noborder network

Bildrechte: David Shay

Filmanalyse Paradise Now

„Allein von der Vorstellung vom Paradies hab’ ich schon mehr, als vom täglichen Leben in dieser Hölle hier.“

Paradise Now erzählt die Geschichte zweier junger Männer, von Saïd und seinem Freund Khaled, die im palästinensischen Autonomiegebiet, dem Westjordanland leben und gleich zu Beginn des Films für die Durchführung eines Selbstmordanschlages in Tel-Aviv ausgewählt werden.

Da die beiden keine Pässe besitzen, was ihnen die Ausreise aus der Stadt Nablus nahezu unmöglich macht, bleiben sie und somit der Zuschauer fast durch den gesamten Film räumlich dort gefangen. Obgleich in den vollen 90 Minuten nicht ansatzweise das Abfeuern auch nur einer Kugel oder das Explodieren einer Bombe gezeigt wird, fühlt der Zuschauer ununterbrochen eine gefährliche Spannung und ein inneres Unbehagen, welches sich stets in der Mimik der Darsteller widerspiegelt.

Paradise Now beginnt mit der Einreise Suhas ins Westjordanland. Die Tochter eines heroisierten Selbstmordattentäters und daher umso mehr Verfechterin des friedfertigen Widerstandes ist gezwungen, sich am Checkpoint den stummen Provokationen eines Grenzsoldaten auszusetzen. In der Kameraführung, die sich durchgängig ruhig und geradlinig zeigt, oft sogar nur statisch Bilder einfängt, werden bewusst inhaltliche Elemente zur umfassenden Charakterisierung einer Situation in den Hintergrund gerückt. So fällt in dieser Grenzerszene dem Zuschauer im letzten Moment des Kameraschwenks ins Auge, dass ein israelischer Soldat eine Waffe auf Suha richtet, was gleich zu Beginn die Asymmetrie des Nahost-Konflikts thematisiert. All das jedoch ist in ein warmes Licht getaucht, was konträr zur Gewalt selbst wirkt und aus der Sicht Saïds die Liebe und Verbundenheit zu seinem Palästina ausdrückt. Die Sicht Saïds ist es nämlich, in die der Zuschauer häufiger Versetzt wird. Dies geschieht indem er dem Protagonisten visuell und hiermit emotional nahe gestellt wird, aber auch indem er durch point of views, mit den Augen Saïd in dessen Welt blickt.

Häuserruinen, Drahtzäune und die dauerhafte Überwachung und Präsenz der bewaffneten Israelis bilden mehr als eine bloße Kulisse, sondern als Antagonist zu Saïd den versinnbildlichten Kontrapunkt im Film. Die stetige Gewalteinwirkung Israels auf die palästinensischen Gebiete und die Charaktere im Film wird allgegenwärtig.

Im weiteren Verlauf begegnen den Hauptrollen und somit auch dem Zuschauer Typen des Alltags wie Taxifahrer, Laden- oder Restaurantbesitzer, die einen gesellschaftlichen Querschnitt darstellen und in ihrer szenischen Anlegung ein Bild der elenden Resignation zeichnen. Suha, zwar arabischer Herkunft, aber nicht in Palästina lebend, deklamiert gegenüber einem Taxifahrer, dass es bald aufwärts gehe, woraufhin dieser nur folgert: „Sie sind wohl nicht von hier?“ Dieser Gesamteindruck der Gesellschaft löst ein mit-leiden auf Zuschauerseite aus.

Darüber hinaus hat der Zuschauer sofort Teil am Leben Saïds und Khaleds, was eine unmittelbare Identifikation mit den beiden Attentätern nach sich zieht. Regisseur Hany Abu-Assad sorgt allerdings dafür, dass es nicht möglich ist, die beiden Palästinenser nur als die Attentäter wahrzunehmen, schlichtweg aus dem Grund, dass sie von Beginn an in ihren alltäglichen und nicht im geringsten fanatischen Lebenssituationen gezeigt werden. So lernt der Zuseher die beiden auf ihrem Arbeitsplatz, einer Werkstatt, kennen, nimmt an gemeinsamen Gesprächen beim Tee teil und begleitet sie in Moraldiskussionen im Imbiss oder innerhalb ihrer Familie. Auch das Aufkeimen einer möglichen Liebesgeschichte zwischen Saïd und Suha, personalisiert den Protagonisten zunächst als vollkommen redlichen Mann.

In diesen trüben aber bei weitem nicht fiktiven Alltagszustand schlägt nun, für Saïd und den Zuschauer überraschend, die Ernennung zum Selbstmordattentäter. Die Situation, in welcher Saïd diese Aufgabe angetragen bekommt, ist bewusst beiläufig und still inszeniert, so dass sie als eine umso heftigere Zäsur begriffen wird. Der Anschlag, der gezielt als Racheakt gegen einen vorangegangenen Angriff Israels ausgewiesen wird, wurde von einer fiktiven und namenlosen Untergrundorganisation geplant und soll bereits am darauf folgenden Tag durchgeführt werden. Das Ziel: Als lebende Bombe möglichst viele Israelis in den Tod reißen, um die Welt aufzurütteln und ein Zeichen gegen die Besatzung zu setzen. Was, in diese Worte gepackt, wie eine Schlagzeile wirkt, wird in Paradise Now vollkommen ruhig und sachlich erzählt. Nur das nötigste wird gesprochen und die Räume sind in beängstigendes Schweigen gehüllt. Wie wenig solche Handlungen also aus brennender Rage, denn eher aus Verzweiflung entstehen wird hierdurch verdeutlicht. Trotzdem wird die Planung mit sachlicher Akribie durchgeführt.

Spätestens an dieser Stelle findet sich der neutrale Zuschauer in einer eindeutigen Dilemmasituation. Längst ist ihm ein Unbehagen durch die Unterdrückung Israels gegenwärtig und längst sind Saïd und sein Kollege Khaled seine Identifikationspersonen und trotzdem sagen seine Moralvorstellungen nein zum geplanten Mord als Auflehnung gegen die Unfreiheit Palästinas. Eine Psychologisierung des Zuschauers erfolgt demnach durch das Hineinversetzen in die Protagonisten.

Ist ein solcher Kunstgriff moralisch überhaupt zulässig? Sollte man trotz aller Grausamkeit ein Verständnis für Massenmörder haben? Ihre Taten nachvollziehen oder gar legitimieren? Um hierauf eine Antwort geben zu können, muss jedoch erst einmal eine andere Frage gestellt werden. Was bestimmt unser zeitaktuelles Denken? Das Höchstmaß an Informationen über den Nahost-Konflikt wird uns über die üblichen Massenmedien zugetragen, allen voran den Nachrichten im Fernsehen bzw. den News im TV. Zweifelsfrei sind diese notwendig und unabdingbar, trotz allem wird immer deutlicher, in welchem Maße Nachrichten auf immer stärkere Bilder, Gewalt und Kriegsdarstellung aus Nahost Wert legen. Hintergründe des eigentlichen Konflikts geraten hierbei oftmals ins Hintertreffen. Diese Hinwendung zur schnellen, packenden News muss im medienhistorischen Kontext begriffen werden, um das Anstreben von Paradise Now nachzuvollziehen.

Formal wendet sich der Film eben gegen eine überspitzt dramatisierte Darstellung. Lange Einstellungen, langsame Schnitte, eine ruhige Kameraführung und häufige Nahen sorgen sowohl visuell als auch ideell dafür, immer nah an den Menschen zu sein, über die der Film spricht – Saïd und Khaled, die Attentätern. Selbiges geschieht auch auf inhaltlicher Ebene. Hier blicken wir nicht auf die nachrichtenhafte Front, des Konflikts, sondern er wird uns von der anderen Seite, mit seiner Ursächlichkeit beleuchtet. Paradise Now wirft keinen Blick auf die Symptome sondern auf die Wurzeln der Problematik Nahost.

Den Auftrag anzunehmen ist für die Freunde zweifellose Ehrensache – „so Gott will“. Nachdem sie den letzten Tag mit ihrer Familie verbringen, Saïd noch ein nächtliches Gespräch mit Suha führt und ihr die Frage nach einem Wiedersehen ebenso mit „so Gott will“, beantwortet, beginnen die Vorbereitungen. Ein Abschiedsvideo wird gedreht, in dem erneut das menschlich-liebevolle der Hauptrollen mit dem nachdrücklichen kriegerischen Aufbegehren gegen die Tyrannei in Einklang gebracht wird. Eine Montage aus Bildern der Vorbereitung folgt, die trotz ihrer fortwährenden Ruhe ein Höchstmaß an Energie erreicht. Begründet liegt dies darin, dass in Kamerafahrten das dynamische Treiben der zahlreichen Helfer eingefangen wird, welche alle in höchster Spannung und Konzentration dargestellt werden. Haare und Bart werden gestutzt, der Körper gereinigt, die Zünder gebastelt und am Körper befestigt, der edle Anzug angekleidet und das buchstäblich letzte Abendmahl, wie auch bei Da Vinci, mit den 12 Jüngern eingenommen. Trotz des eindeutig christlichen Motivs mit welchem Hany Abu-Assad spielt, sitz am Platze Jesus` Saïd – der Erlöser. Auditiv liegt über diesen Bildern das Gebet, welches für die beiden „Gotteskrieger“ gesprochen wird. All das geschieht mit der betont zurückgenommenen Sachlichkeit, die der Film stetig durchhält und somit den Zuseher umso mehr berührt. Intensiviert wird dies durch das Gefühl der direkten Teilnahme des Zuschauers, was ihn wiederum in nahezu komplizenhafte Verantwortung zieht.

Gleich nach offiziellem Beginn der Aktion geht etwas schief. Die Wege von Saïd und Khaled trennen sich ungewollt und der Protagonist irrt allein durch das Westjordanland, begleitet von dem Gedanken, den der Zuschauer mit ihm teilt, ob dies der richtige Weg ist. Gerade weil Saïd auffallend wenig spricht, schafft der Film von Hany Abu-Assad viel Platz für den Zuschauer, Gedanken selbst zu konstituieren oder mit zu vollziehen. Hierzu gehören gewiss ebenso seine Ängste und Skrupel. Filmästhetisch tragen erneut die nahen Einstellungen und teilweise point of views zur weiteren Verbindung zwischen Zuseher und Hauptrolle bei.

Wie fragil das gebaute Kartenhaus des geplanten Anschlags ist, ist dem Zuschauer längst deutlich. Khaled gerät auf der Suche nach seinem Freund immer deutlicher, nicht zuletzt durch die Einflussnahme Suhas, in Zweifel über die Richtigkeit des Vorhabens. Saïd hingegen schärft sich selbst immer stärker die Richtigkeit des Projektes ein. Visuell ist bemerkenswert, dass beide auf ihrer Suche das Bild in unterschiedlicher Richtung durchlaufen. Khaled erfährt ein geistiges Vorankommen in der Bewegung von links nach rechts, Saïd geht dem auf seiner Suche entgegen. Mit dem Blick in die Kamera teilt er dem Zuschauer mit, dass es Gottes Wille ist und keine andere Lösung besteht. Seine zitternden Lippen und die Schweißperlen auf der Stirn sprechen allerdings eine andere Sprache. Doch auch die Tatsache, dass Saïd, Sohn eines Kollaborateurs, stets glaubt, die Ehre seiner Familie wieder herstellen zu müssen, lässt ihm keine andere Wahl. Der Zuschauer muss machtlos mit ansehen, wie Saïd sich selbst, seine Familie und einen Bus voller Israelis ins Verderben stürzt.

Die Kritik an Paradise Now, dass in dem Film Selbstmordanschläge legitimiert werden, ist deutlich zurückzuweisen. Denn die Charaktere entwickeln sich und unterschiedliche Wege werden aufgewiesen. Das letztlich der angekündigte Weg bis zum Ende gegangen wird, trägt umso mehr zum emotionalen Teilhaben des Zuschauers bei. Saïd bittet das Projekt erneut durchführen zu dürfen, sorgt mit einer Finte dafür, dass Khaled aussteigt und sprengt sich selbst in Tel-Aviv in die Luft. Die In diesen letzten Entscheidungen ist ein weiteres moralisches Dilemma verborgen. Saïd muss entscheiden zwischen dem Leben und dem Widerstand gegen die Besatzung. Einen Mittelweg sucht er darin, seinen ohnedies zweifelnden Freund zu retten, die Tat selbst jedoch durchzuführen.

Der Film endet auf Saïds glasigen Augen. Zu hören ist nichts. Das Bild wird Weiß – die Farbe der Trauer im Islam – und der Film ist vorüber. Selbst in diesem Ende wird konsequent auf Musik verzichtet und der Zuschauer bleibt mit sich selbst und seiner Verantwortung zurück. Gerade Saïds finaler Monolog, in dem er für sich den Grund des Attentats manifestiert, ist Schlüssel zum Verständnis. Lässt sich der Zuschauer hierauf ein, öffnen sich ihm neue Perspektiven, die weit über die Grenze der politischen correctness hinausgehen. Allerdings begründen sie die nicht enden wollende Verkettungen von Unmenschlichkeiten höchsten Maßes.

Darüber hinaus wirft der Film die Frage nach der Opfer-Täter Konstellation auf, die erfahrungsgemäß gerade in Deutschland gescheut wird. In besagtem Monolog fragt Saïd: „Was bin ich? Was bleibt mir übrig, als Opfer und Opfernder, Unterdrückter und Mörder zu sein.“ Spätestens an dieser Stelle richtet sich die Frage aber nicht mehr an ihn selbst, sondern an die Zuschauer. Was bleibt ihnen übrig? Wie müssen sie sich im Film positionieren? Der Versuch, eine Identifikationsfigur für den Zuschauer in Saïd zu schaffen und ihn somit gewissermaßen zum gebrochenen Helden zu machen, ist ein vollkommen legitimes und achtbares Mittel, welches Hany Abu-Assad umsetzte. Allerdings nicht, um eine Legitimierung der Selbstmordattentate zu finden, sondern überhaupt dem Zuschauer den Blick in den Konflikt zu ermöglichen. Gerade deshalb spricht Saïd doch gesellschaftsreflexiv aus der Leinwand nach draußen, zu der Welt. Als wäre es an jeden Menschen flehentlich gerichtet meint der Protagonist: „Die Welt beobachtet es, aber bleibt gleichgültig, feige, verlogen. Du fühlst, du stehst dem Unterdrücker so alleine und wehrlos gegenüber. Du suchst nach Lösungen das ohne euch zu beenden.“

Dies macht Paradise Now zu mehr als einem gewöhnlichen Film. Auch zu mehr als einem interessanten Film mit ausgeklügeltem Heldenschema. Sondern es macht ihn zum einen zu einem aktuell überaus relevanten und gesellschaftlich bedeutsamen Medienerzeugnis und zum zweiten zu einem hoffenden Aufschrei an die Weltbevölkerung. Um den Konflikt im Nahost verstehen zu können, sind genau solche Botschaften an die Welt unerlässlich. Auch wenn der Stoff zweifelsfrei heikel ist, darf man sich ihm gegenüber nicht verschließen. Kais Nashef, Hauptdarsteller des Saïd, meint diesbezüglich zu Recht: „Israelis und Palästinenser müssen diesen Film sehen. Sie sind so übersättigt mit Nachrichten und politischen Ideologien, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Sie haben kein Gefühl mehr dafür.“

Mit äußerster Sensibilität und dem trotzdem bestehenden Wissen hiermit moralische Grenzen zu übertreten, versucht Paradise Now zumindest einen gewissen Teil zur Rückgewinnung dieses Gefühls zu leisten.